Translexical Foundations of Sociophysiology (TLexFouSoc)
Presented by Translexicalia in collaboration with the Institute of Lexical Ecology (ILE), the Institute of Sociophysiology (ISOCPHYS), and the Center for the Analysis and Clitalysis of Altarity (CACA).
G. P. Zeliony: Über die zukünftige Soziophysiologie. 405
Über die zukünftige Soziophysiologie.1) 2)
Von
Privatdozent Dr. med. G. P. Zeliony, St. Petersburg.
Inhalt: I. Die Soziologie und die naturwissenschaftliche Methode. Kann die Psychik anderer Menschen ein Untersuchungsobjekt für den Naturforscher darstellen? Naturwissenschaftlicher Solipsismus. — II. Die physiologische Seite der Wechselbeziehungen der Menschen als Gegenstand einer besonderen Wissenschaft. Die reflektorischen Wechselbeziehungen der Menschen. Bedingte und unbedingte Reflexe.  Individuelle Physiologie, kollektivistische und Soziophysiologie (oder physiologische Soziologie). Vergleichende Soziophysiologie. Pathologische Soziophysiologie. Methodik der Soziophysiologie. — III. Beziehung der Soziophysiologie zu der psychologischen Soziologie. Bedeutung der Soziophysiologie für praktische Fragen und für die Weltanschauung.

I.

Das Bestreben, mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methode, die zuerst von Galilei in weitem Maße angewandt und theoretisch begründet wurde, und die so auffallende Resultate bei dem Studium der anorganischen Natur ergeben hatte, nun auch eine Soziologie aufzustellen, besteht bereits seit langer Zeit. Der erste ernste Versuch dieser Art ging von Comte3) aus. Andererseits stellen einige Gelehrte die Möglichkeit einer Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode in der Soziologie in Abrede. Wer ist im Recht? Mir scheint es, und ich will mich bemühen dieses in meiner Abhandlung zu beweisen, daß es unmöglich ist, eine naturwissenschaftliche Soziologie aufzustellen, wenn unter Soziologie eine Wissenschaft verstanden wird, die nicht nur die physische, sondern auch die psychische Seite der Menschheit berührt.

Die physische Seite der Wechselbeziehungen der Menschen kann nichtsdestoweniger Gegenstand einer besonderen Naturwissenschaft sein,

1) Als Bericht in der St. Petersburger Philosophischen Gesellschaft vorgetragen am 19. März 1909. —

2) Die moderne Soziologie zeigt vielfach, besonders in Deutschland, eine ausgesprochene Neigung zu psychologischer Einseitigkeit, die sich gelegentlich bis zu völliger Identifizierung von Soziologie und Sozialpsychologie steigert. Demgegenüber wird der entgegengesetzte Standpunkt der obigen Abhandlung mit ihrer grundsätzlichen Beschränkung auf die physisch–physiologische Seite der sozialen Erscheinungen von Interesse und von Wert sein. In Wahrheit werden wir freilich nur aus der zweckmäßigen Kombination beider Methoden, der physisch–objektiven und der psychisch–subjektiven, das Höchstmaß möglicher Einsicht in das so überaus verwickelte Getriebe der menschlichen Gesellschaft erhoffen dürfen. A. Nordenholz.

3) Aug. Comte. Cours de philosophie positive T. IV, V.

Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie. 1912. 4. Heft.

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welche ich als „physiologische Soziologie“ oder besser „Soziophysiologie“1) zu bezeichnen vorschlage. In meiner Abhandlung gebe ich außerdem eine annähernde Skizze des Charakters der zukünftige physiologischen Soziologie. Diese Skizze soll nur meine Idee über die Möglichkeit einer derartigen Wissenschaft illustrieren. Ich prätendiere jedoch durchaus nicht in vorliegender Arbeit einen Grundanfang der physiologischen Soziologie zu geben.

Die Grundthesis meines Berichtes, daß nämlich die Soziologie nur in dem Falle eine Naturwissenschaft werden kann, wenn sie sich bloß auf das Studium der physiologischen Seite der Wechselbeziehungen der Menschen beschränkt, kann formell gestützt auf eine bestimmte Erkenntnistheorie bewiesen werden, als Physiologe ziehe ich es jedoch vor, mich auf den Begriff der naturwissenschaftlichen Methode selbst zu stützen, die eine glänzende jahrhundertlange Erfahrung für sich hat.

Die Naturwissenschaft ist eine Wissenschaft der Erscheinungen. Das Untersuchungsobjekt des Naturforschers sind Erscheinungen und durchaus nicht die Begriffe, welche wir im gewöhnlichen Leben mit denselben in Verbindung setzen. Haben wir aus der Analyse der Erscheinungen diese oder jene Begriffe gefolgert, so können wir uns derselben für die weitere Forschung bedienen. Der Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung bleiben jedoch stets Erscheinungen.

Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist die Beschreibung der Erscheinungen (die Aufdeckung neuer Erscheinungen) sowie die Klarstellung des gesetzmäßigen Zusammenhanges derselben.

Diesen Gesichtspunkt nehmen unter anderem viele Soziologen in der Theorie an, was sie jedoch nicht daran hindert, in der Praxis von ihm abzuweichen. Sogar Comte, der nach dieser Formel eine ganze Philosophie gleichsam aufgebaut hat, hat eine soziale Physik geschaffen, die derselben vollkommen widerspricht.

Eine der Hauptursachen dieser Inkonsequenz besteht meiner Meinung nach in dem unklaren und ungenauen Begriff der Erscheinung. Ich werde daher zunächst an Beispielen diesen Begriff klarzustellen suchen. Als Resultat einer einfachen Erörterung wird es ersichtlich werden, daß der richtige Begriff der Erscheinung den Naturforscher veranlaßt, bei der Untersuchung der Menschheit die psychische Seite derselben unberührt zu lassen.

Stellen wir uns folgendes Bild vor: ein Mensch greift mit dem Ausdruck von Zorn und Drohung im Gesicht einen anderen an. Dieses Bild wollen wir zum Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Untersuchung machen. Beschreiben wir zu dem Zweck die Erscheinungen,

1) Diese Bezeichnung ist von Herrn Prof. Dr. A. I. Wedensky vorgeschlagen worden.
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welche für uns das Untersuchungsobjekt darstellen werden. Was wird für uns von all dem als Erscheinung gelten?

Die gewöhnliche Bestimmung würde sein: natürlich das, was ich sehe, d. h. der Mensch, sein Zorn, die Bedrohung, welche im erhobenen Stock ausgedrückt ist. Die einfachste Analyse zeigt indessen, daß dem nicht so ist. Ich sehe nur die Gesamtheit von äußeren Erscheinungen, welche ich in Gedanken von den dieselben umgebenden anderen Erscheinungen abgeschieden habe; diese Gesamtheit bezeichne ich als menschlichen Organismus. Bei einer genaueren Beschreibung dieser Gesamtheit von Erscheinungen werde ich sagen, daß dieser Mensch seine Hand, die einen Stock hält, gehoben hat. Außerdem haben sich die Gesichtszüge dieses Menschen in gewissem Sinne verändert. Daß diese Veränderung Zorn und Drohung ausdrückt, ist meine Erklärung der sichtbaren Erscheinungen.

Eine derartige Erörterung ist nicht nur für ein Beispiel an einem Menschen, sondern auch an einem Menschenhaufen anwendbar. Wir können daher aussagen, daß ein Menschenhaufen, der mit Drohungen jemand angreift, nicht als eine soziale Erscheinung bestimmt werden kann (falls nicht aus unserer Bestimmung der Begriff der Drohung entfernt wird); desgleichen kann auch ein Aufruhr nicht als Erscheinung bestimmt werden.

Kurz, die Psychik anderer Menschen können wir nicht als Erscheinung, als Tatsache auffassen.

Mit dieser banalen, einfachen Wahrheit wird, denke ich, jede einverstanden sein und dennoch berücksichtigen einige Soziologen sie nicht. Es existiert z. B. eine Ansicht, nach welcher die Gesellschaft als eine kosmische, natürliche Erscheinung bezeichnet wird, wobei unter Gesellschaft die Gesamtheit bewußter Wesen verstanden wird. Ich meine jedoch, daß der Begriff „Bewußtsein“ nicht in die wissenschaftliche Bestimmung einer Naturerscheinung eingehen kann. Das Bewußtsein, welches jeder von uns anderen Menschen zuerkennt, muß der Naturforscher ignorieren, da es in keinem Fall seiner Wahrnehmung zugänglich werden kann. Davon, daß dasselbe auch nicht als transzendente Hypothese gelten kann, soll weiter unten gehandelt werden.

Die ganze moderne Soziologie ist von irrtümlichen Bestimmungen sogen. sozialer Erscheinungen erfüllt. Über Worte läßt sich natürlich nicht streiten; es kann keinem verboten werden, dem Worte „Erscheinung“ einen besonderen Sinn beizulegen. Viele Soziologen jedoch stellen die sogen. „soziologischen Erscheinungen“ wahren Naturerscheinungen, die von den wahren Naturwissenschaften erforscht werden, gleich. Derartigen Erscheinungen werden Ehe, Verbrechen, Familie und dergl. zugerechnet.

Ein Verbrechen kann jedoch in keinerlei Weise als eine Erscheinung

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bezeichnet werden. Nehmen wir an, ein Mensch stößt ein Messer in den Körper eines anderen; das ist ein unzweifelhaft eine Erscheinung, welche wir mit unseren Sinnesorganen perzipieren können. Wir können jedoch durchaus nicht aussagen, daß hier als eine Erscheinung ein Verbrechen vorliegt. Indem wir von einem Verbrechen sprechen, charakterisieren wir die beobachtete Erscheinung, wobei wir uns auf eine Erklärung der psychischen Seite eines anderen Menschen stützen, die uns jedoch als Erscheinung unzugänglich ist. Die Tatsache des Einstoßens eines Messers in den Körper eines Menschen kann nicht ein Verbrechen genannt werden, denn ein Chirurg ist doch kein Verbrecher. Der Schwerpunkt liegt in den Motiven und überhaupt in der Psychik des Täters und der ihn umgebenden Menschen.

Ziehen wir fernerhin den gangbaren Begrifft der Familie in Betracht. Er ist undenkbar ohne eine Vorstellung über die psychische Seite der Menschen; er kann somit eine naturwissenschaftliche Soziologie nicht aufgenommen werden.

Bei der Aufstellung der oben erwähnten Begriffe spielten natürlich gewisse Erscheinungen dennoch eine große Rolle; z. B. die Verletzung des Körpers eines Menschen durch einen anderen (im Begriff Verbrechen); spezifische, physische, gegenseitige Beziehungen einiger Organismen zu anderen (im Begriff Familie) und dergl. Diese Erscheinungen können nun als Objekt einer naturwissenschaftlichen Untersuchung dienen. — Die komplizierten oben erwähnten Begriffe spielen jedoch nur insofern eine Rolle, als sie unsere Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Erscheinungen lenken, die mit ihnen verbunden sind. Indem wir an eine Untersuchung der Erscheinungen herantreten, müssen wir uns von diesen Begriffen lossagen. Derartige Begriffe können mit einem Führer verglichen werden, dessen Dienste wir nicht weiter bedürfen, sobald wir den gewünschten Ort erreicht haben. Ich sehe voraus, daß nach dem hier Ausgesagten mir die Entgegnung gemacht werden kann: die Psychik anderer Menschen ist für den Naturforscher natürlich keine Erscheinung, er kann jedoch, wenn von ihr gehandelt wird, zu ihr seine Zuflucht nehmen für eine Erklärung der Erscheinungen. In den schon erörterten Begriffen wie Verbrechen, Familie, führen wir bereits, wenn wir von der Psychik reden, das Element der Erklärung ein. Jedoch auch diese Einwendung ist nicht richtig.

Die gesamte Naturwissenschaft ist auf dem Prinzip begründet, daß jede äußere Erscheinung ihre Ursache in einer äußeren Erscheinung hat, wobei das Wort „Ursache“ im Sinne von „Bedingung“ verstanden werden muß.

Erklären bedeutet in der Naturwissenschaft den gesetzmäßigen Zusammenhang einer Erscheinung mit anderen bestimmen. Der Naturforscher stellt die Frage, wie verläuft eine Erscheinung und nicht

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warum sie vor sich geht. Mit anderen Worten, der Naturforscher sucht keine verborgene, innere Ursachen der Erscheinungen (causae occultae) sondern nur die Gesetze auf, nach denen die Erscheinungen verlaufen.

Durch den Ausdruck „Anziehungskraft“ verallgemeinern wir bloß die Tatsache, daß unter gewissen Bedingungen die Körper sich gesetzmäßig gegeneinander bewegen. Ich will hier noch einmal das Beispiel des Menschen heranziehen, der mit einem Stock droht. Worin liegt die Ursache für die Erhebung der Hand mit dem Stock? Mit einem gewissen Recht kann auf diese Frage geantwortet werden, daß die Ursache in dem Wunsche dieses Menschen liegt, einen Schlag auszuführen.

Vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt erklärt uns jedoch dieses nichts, da eine Erscheinung erklären bedeutet, den gesetzmäßigen Zusammenhang derselben mit anderen Erscheinungen bestimmen. Da die psychische Seite eines anderen Menschen unserer Wahrnehmung unzugänglich ist, so ist ein in Zusammenhang stellen derselben mit physischen Erscheinungen des Organismus keine Erklärung derselben. Wenn wir jedoch das Erheben der Hand in Zusammenhang setzen mit physischen Prozessen im Nervensystem und physischen Einwirkungen auf den Organismus, so geben wir dem angeführten Beispiel eine vollkommen naturwissenschaftliche Erklärung. Uns interessieren somit die physischen, einer Wahrnehmung empfänglichen Bedingungen des Erhebens der Hand.

Wenn die Ober- und Untergrundwasser zur Bildung eines Flusses führen, so stellen wir nicht die Frage, welche inneren Bedingungen, die unserer Wahrnehmung unzugänglich sind, oder welche geheimnisvollen Kräfte sie dazu veranlaßten (obgleich wir nicht beweisen können, daß derartige geheimnisvolle Kräfte nicht vorhanden sind; es sei nur an die Lehre von dem Panpsychismus erinnert.). Wir werden bloß den gesetzmäßigen Zusammenhang des Wassers mit anderen Naturerscheinungen untersuchen und werden uns bemühen zu erkennen, wie sich der Fluß gebildet hat, unter welchen Bedingunen (die unserer Sinneserfahrung zugänglich sind) er erstanden ist.

Wenn wir die Ursache (in naturwissenschaftlichem Sinne) des Durchstichs eines Kanals durch ein Aggregat von Menschen erfahren wollen, müssen wir desgleichen die für unsere Wahrnehmung verborgenen Gedanken und Gefühle dieser Menschen unberührt lassen. Wir müssen nur den Zusammenhang der physiologischen Prozesse im Organismus dieser Leute mit der umgebenden Natur bestimmen, welcher zur Bildung des Kanals führte.

Der Naturforscher hat somit nicht das Recht, für eine Erklärung der an Menschen beobachteten Erscheinungen seine Zuflucht zur Psychik derselben zu nehmen. — Ich sehe eine Entgegnung voraus, die mir gemacht werden kann, daß nämlich die Naturwissenschaft sich

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auch mit den psychischen Erscheinungen beschäftig, infolgedessen die naturwissenschaftliche Methode es durchaus zuläßt, daß auch die Psychik der Menschen herangezogen wird. Mir scheint, das selbst in dem Falle, wenn die individuelle Psychologie für eine Naturwissenschaft gehalten wird1), diese Entgegnung ungerechtfertigt ist. Dieser Methode bedient sich nämlich nicht die Naturwissenschaft selber, sondern ein konkreter Naturforscher. Dieser ist jedoch imstande, nur das zu behandeln, was für ihn eine Erscheinung, d. h. ein Element seiner eigenen und durchaus nicht einer fremden Psychik darstellt.

Darin liegt unter anderem die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Methode, daß der Forscher davon ausgeht, was für ihn Realität, unmittelbares Bewußtseinsobjekt oder ein Erlebnis darstellt. Diesen Gesichtspunkt, welcher dem Naturforscher gestattet, nur das zu berühren, was sein persönliches Erlebnis darstellt oder darstellen kann, möchte ich als Gesichtspunkt eines wissenschaftlichen Egozentrismus oder besser eines wissenschaftlichen Solipsismus bezeichnen.

Noch einem möglichen Einwand muß ich begegnen. Er besteht darin, daß die Naturwissenschaft sich in weitem Maße metaphysischer Hypothesen bedient, daß sie darauf sogar ihren Fortschritt basiert; derartige Hypothesen sind die atomistische, die Elektronenhypothese. Wir könnten daher bei der Beobachtung des Menschen auch seine Psychik in Betracht ziehen als eine metaphysische Arbeitshypothese. Diese Annahme ist jedoch unrichtig. Die naturwissenschaftliche metaphysische Hypothese ensteht auf dem Wege der Abstraktion bei der induktiven Erforschung der Erscheinungen. Unterwerfen wir die physische Seite der Menschen einer naturwissenschaftlichen Analyse, so können wir dadurch keine Begriffe über seine Psychik erheben2). Zu welcher Art Begriffe wir bei der naturwissenschaftlichen Forschung gelangen werden, ist nicht schwer zu erkennen. Aus der Physik und Chemie wissen wir, daß die naturwissenschaftliche Analyse der physischen Erscheinungen uns zur Aufstellung solcher Begriffe wie Atom oder Elektron führt. Derartiger Begriffe bedient sich auch die Physiologie, deren Fortschritt vom Fortschritt der jungen Wissenschaft der physikalischen Chemie abhängt.


II.

Nach diesen vorläufigen Bemerkungen über die Methode ist es erforderlich, den Gegenstand unserer Wissenschaft, ihre spezielle Methodik, zu charakterisieren sowie einen ungefähren Plan des Aufbaues ihrer

1) Ich selber vertrete die entgegengesetzte Ansicht, da die individuelle Psychologie anderen Forderungen der naturwissenschaftlichen Methode, die ich hier unberücksichtigt lasse, nicht genügt, so ist sie z. B. nicht imstande, die Qualität auf die Quantität zurückzuführen.

2) Im gewöhnlichen Leben bedienen wir uns hauptsächlich der Analogie.

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Grundanfänge zu skizzieren. — Ich betone das Wort „ungefähren“, da der Aufbau einer Basis der physiologischen Soziologie, wie einer jeglichen anderen Wissenschaft, nur als Resultat von langjährigen, eifrigen Arbeiten zahlreicher Forscher erzielt werden kann. Bis jetzt läßt sich kaum sagen, daß die Zeit für eine physiologische Soziologie bereits gekommen ist, sie ist erst im Herannahen begriffen.

Wie aus dem oben Mitgeteilten resultiert, müssen wir uns in der Soziophysiologie vollkommen von einer Vorstellung des Menschen als eines psychophysischen Organismus losmachen. Wir müssen uns die Menschen nur als Organismen vorstellen und die Psychik vollkommen ignorieren. Diese recht schwierige Aufgabe erfordert eine bestimmte Gedankendisziplin. Um diese Aufgabe zu erleichtern beginne ich mit eine Charakteristik der Menschen als einer Erscheinung unserer Welt.

Überblicken wir in Gedanken die Erdkugel, so können wir auf ihrer Oberfläche eine Reihe von Veränderungen konstatieren. Die Ursache (ich gebrauche das Wort in seiner naturwissenschaftlichen Bedeutung) der einen Erscheinungen erkennen wir in der anorganischen Natur (z. B. Bewegung des Eises, der Flüsse, Erdbeben, atmosphärische Niederschläge und anderes). Die unmittelbare Ursache anderer Erscheinungen stellen Einwirkungen organisierter, lebender Körper dar. Es is bekannt, daß eine Folge der Einwirkung von Bakterien die Veränderung des sie umgebenden Mediums sein kann: Pigmentbildung, Fäulnisprozesse und anderes. Bei Beobachtung komplizierter organisierter Körper können wir desgleichen verschiedenartige Veränderungen der umgebenden Natur feststellen: Bildung von Honigwaben, Ameisenhaufen, Biberbauten und dergl. Die erwähnten Veränderungen sind jedoch relativ unbedeutend. Die größten Veränderungen, die sich an der Gesamtkonfiguration der Erdoberfläche geltend machen, sind jedoch das Resultat einer Einwirkung der kompliziertesten organisierten Körper — der menschlichen Organismen. Ich weise nur auf die Städte, Kanäle und dergl. hin. Vom physikalisch-chemischen Gesichtspunkt ist keinerlei prinzipieller Unterschied zwischen der Einwirkung auf die umgebende Natur unorganisierter körper (Eis, Wind, Regen, Meere) und organisierter vorhanden. Die lebenden Organismen nehmen ebenso wie andere Körper an dem Weltkreislauf der Energie teil ohne jegliche Störung des Gesetzes der Erhaltung der Energie.

Die tierischen Organismen wirken nicht nur auf die umgebende unorganisierte Natur ein, sondern auch aufeinander. Stellen wir uns vor, daß wir irgendein Volk aus der Vogelperspektive beobachten. Wir werden wahrnehmen, daß die Menschen gehen und zwar ein Teil in einer Richtung, ein anderer in einer anderen. Wir werden erkennen können, daß die Richtung und der Charakter der Bewegung einzelner Menschen oder Aggregate derselben in Abhängigkeit stehen von den

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sie umgebenden anderen Menschen (sowie auch von anderen Naturgegenständen). Unserer Untersuchung werden auch solche Tatsachen zugänglich sein wie die, daß einige Menschen viel Speise zu sich nehmen, während andere tagelang nichts essen.

Die gegenseitigen Geschlechtsbeziehungen der Menschen, die Beibringung von Wunden, Totschläge, Geburten, Todesfälle, der Charakter der Kleidung verschiedener Personen sind der Beobachtung des Naturforschers zugänglich und stellen für ihn den Gegenstand von Untersuchungen dar. Wenn nun behauptet wird, daß der gesetzmäßige Zusammenhang dieser Erscheinungen nicht ohne Berücksichtigung der Psychik erfaßt werden kann, so wird damit die moderne Naturwissenschaft negiert. Da der Organismus selbst keine Energie schafft, so stellt jede seiner Erscheinungen auf die umgebende Natur eine Übertragung von Energie dar, die ihrerseits von auswärts erhalten worden ist. Hierbei ist es gleichgültig, ob die Wechselwirkung zwischen zwei Organismen oder einem Organismus und der toten Natur vor sich geht. Beide Fälle sind in gleicher Weise physikalisch-chemischen Gesetzen unterworfen.

Aus sämtlichen Erscheinungen, die mit den Organismen zusammenhängen, können wir die eine oder die andere Gruppe ausscheiden und sie zum speziellen Objekt unseres Studiums machen, d. h. eine besondere Wissenschaft schaffen. — Zum Gegenstand einer besonderen Wissenschaft können wir auch die Wechselbeziehungen (die physiologischen) der Menschen machen. Diese stellt eine neue Disziplin der Naturwissenschaft dar, die ich als „physiologische Soziologie“ oder als „Soziophysiologie“ des Menschen bezeichnen möchte. Ebenso können wir auch die Wechselbeziehungen anderer Tiere untersuchen, in welchem Falle eine Soziophysiologie der Tiere (z. B. der Bienen, der Ameisen und anderen) geschaffen wird.

Da nun sämtliche Naturerscheinungen miteinander verbunden sind, so ist jegliche Ausscheidung eines Teils derselben zwecks seines Studiums eine im gewissen Grade künstliche. Dies trifft auch auf unseren Fall zu. Die Organismen stehen ja nicht nur mit anderen Organismen in Wechselbeziehung, sondern auch mit der übrigen sie umgebenden Natur. Eine gesonderte, unabhängige Einwirkung der Organismen aufeinander ist nicht vorhanden. Deswegen muß stets in der Soziophysiologie Rücksicht genommen werden auf die Einwirkung der übrigen Natur auf die Wechselbeziehungen der tierischen Organismen. — Hierbei entsteht sogar die Frage, ob nicht in das Gebiet der physiologischen Soziologie die Wechselbeziehungen der Aggregate von Organismen und der toten Natur (oder Organismen anderer Art) mit einbezogen werden müssen, oder ob dieselben den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft darstellen.

Zwecks genauerer Bestimmung und Charakterisierung des Gegen-

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standes der Soziophysiologie will ich mit der Analyse der Beziehung eines Organismus beginnen, und da uns am meisten die Soziophysiologie des Menschen interessiert, so wähle ich für diese Analyse den höchststehenden tierischen Organismus.

Im komplizierten System des tierischen Organismus zur Umwelt können zwei Hauptgruppen unterschieden werden:

1. Wechselwirkung des Tieres und der umgebenden Natur, die auf reflektorischem Wege erfolgt, d. h. durch Vermittelung des Nervensystems. Dieselbe ist das Resultat einer Einwirkung äußerer Agentien auf spezielle percipierende Gebiete (d. h. Sinnesorgane).

2. Nichtreflektorische Einwirkung, die nicht ausschließlich auf einer Tätigkeit des Nervensystems beruht. (Ernährung, Wärmeaustausch1).

Uns interessiert mehr das erste Gebiet der Wechselwirkungen, weil dadurch hauptsächlich die Wechselbeziehungen der Menschen bestimmt werden. Hier muß jedoch bemerkt werden, daß diese beiden Gruppen von Wechselwirkungen einander beeinflussen und daß beim Studium der einen stets auch die andere in Berücksichtigung gezogen werden muß: so beeinflussen die Ernährungsprozesse die Reflexe und umgekehrt.

Wie dem auch sei, der Schwerpunkt liegt in den Reflexen, wie dir nun einer Betrachtung unterziehen wollen. Suchen wir zunächst zu bestimmen, was ein Reflex ist. Derselbe ist eine Reaktion des Organismus auf eine Reizung, bei welcher eine Übertragung des Reizes in zentripetaler Richtung durch das Zentralnervensystem auf eine zentrifugale Bahn zu einem Organ erfolgt. Einige aus dem Laienpublikum sowie aus der Zahl der Gelehrten halten für Reflexe bisher nur die Reaktionen des Organismus, die unbewußt oder unwillkürlich erfolgen. Von diesen reflektorischen Reaktionen des Tieres wird eine Reihe anderer Reaktionen „psychischen Charakters“ abgesondert. Es wird hierbei angenommen, daß diese Reaktionen, diese Handlungen der Menschen (oder anderer Tiere) nicht durch einen Reflexmechanismus, sondern durch psychische Prozesse bedingt werden. Als Beispiele derartiger Reaktionen können angeführt werden Worte, die als Antwort auf eine Frage ausgesprochen werden, oder eine bestimmte Bewegung die als Antwort auf ein Ansprechen ausgeführt wird und anderes. Kurz, hierher gehören sämtliche Reaktionen, die wir im Alltagsleben für Folgen von psychischen Prozessen halten und die in ihrer Gesamtheit als „Betragen“ bezeichnet werden. Es ist möglich, daß diese Reaktionen tatsächlich ihre Ursache (im Sinne von „causa occulta“) in psychischen Prozessen2) haben, für den Phsyiologen jedoch liegt ihre Ursache (im naturwissenschaftlichen Sinne) in bestimmen materiellen Prozessen im Nervensystem.

1) Für die schematische Darstellung lasse ich absichtlich die Frage über „Instinkt“, „Tropismus“ u. anderes beiseite.

2) Ich lasse diese metaphysische Frage vollkommen offen.

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Mit anderen Worten, für den Physiologen sind diese Reaktionen Reflexe. Für den Psychophysiologen sind sie Reflexe, die von psychischen Erscheinungen begleitet werden. Die Metaphysik mag nun entscheiden, ob in diesen Fällen die psychischen Erscheinungen vom nervösen Reflexapparat erzeugt werden, oder ob umekehrt die ersteren die Reflexe dirigieren.

Hinsichtlich der Annahme, daß die psychischen Prozesse die Reflexe dirigieren, kann der Physiologie mit einer gewissen Änderung das, was Cl. Bernard1) über die berühmte Lebenskraft ausgesagt hat, wiederholen: Geben wir zu, daß die Psychik die nervösen Prozesse leitet, so wird dadurch die Aufgabe des Physiologen nicht geändert; diese Aufgabe, welche in der Untersuchung des Determinismus der physiologischen Erscheinungen besteht, wird stets bestehen bleiben unabhängig von der Art der einwirkenden Grundursache. Das Aufsuchen der wirkenden Kräfte bildet nicht einen Gegenstand seiner Aufgabe.

In den Fällen, in denen Andere eine „psychische“ Reaktion oder einen „Psychoreflex“ annehmen, erkennt somit der Physiologe nur einen Reflex an oder genauer, er berücksichtigt nur die physiologischen Prozesse und läßt die Psychik unberücksichtigt.

Derart muß die Tätigkeit des Physiologen sein, der den Boden der naturwissenschaftlichen Forschung nicht verlassen will. Bis in die letzte Zeit ist die Forderung der naturwissenschaftlichen Methode, die Ursachen der physikalischen (resp. phsyiologischen) Erscheinungen in physikalischen (und nicht psychischen) Erscheinungen zu suchen, nicht immer eingehalten worden. Die Forderung, dieses Grundprinzip, der Naturfarschung streng einzuhalten, ist am Ende des vorigen Jahrhunderts von den Physiologen Uexküll, Nuel, Bethe und anderen aufgestellt worden. Es muß hervorgehoben werden, daß die Philosophen viel früher als die Physiologen den wahren physiologischen Gesichtspunkt richtig bestimmt haben. Dieses findet offenbar darin seine Erklärung, daß sie die Ideen von Descartes, der nicht nur Philosoph, ondern auch Physiologe war, weiter entwickelten.

Den von mir hier entwickelten Gesichtspunkt kann man als eine Folge der Lehre vom empirischen, psychophysischen Parallelismus betrachten, aus welchem hervorgeht, daß im physiologischen Korrelat eine Gesetzmäßigkeit erfaßt werden kann, bei vollkommener Ignorierung des psychischen Korrelats.

Bereits bei Lange2) finden wir eine physiologische Analyse der uns interessierenden Reaktionen in seinem bekannten Beispiel von dem Kaufmann, der ein Telegramm erhalten hat.

1) Cl. Bernard. Introduction à l’étude de la médecine expérimentale.

2) Lange. Geschichte des Materialismus.

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